Leseprobe

Die ungewöhnliche Vampirin

Es schneite. Den ganzen Tag lang. Dort wo man den Schnee schon weggeräumt hatte, schneite es wieder zu. Gut, was anderes konnte man im Januar im Jahre 2012 auch nicht erwarten.
Die Feuerwehr in Frankfurt am Main, wo unsere Geschichte beginnt, war minütlich im Einsatz. Obwohl es kalt war, standen junge Frauen in dünner Kleidung hinter dem Hauptbahnhof. Ein paar Männer waren dort und boten so allerlei illegale Betäubungsmittel feil. Des Öfteren kamen gutsituierte, ältere Herren mit ihrem Mercedes oder BMW vorbei und nahmen die eine oder andere Dame oder auch einen jungen Mann mit.
Auch jemand anderes war da, ein junges, ganz in Schwarz gekleidetes Mädchen. Man würde sie für etwa 20 Jahre alt halten. Ihr Körper war schlank und sportlich. Ihre Haare waren schwarz, ihre Haut dafür weiß, fast schon bleich. Niemand nahm von ihr Notiz. Die Menschen, die ihren Geschäften am Bahnhof nachgingen, genauso wenig, wie die Reisenden, die der Bahnhof in regelmäßigen Abständen ausspuckte.
Das Mädchen drückte sich in eine Ecke und beobachtete die Menschen. Sie hielt Ausschau nach ihren Opfern.
Gerade war ein ICE aus Köln eingefahren und so drängten sich die Ankommenden auf den Bahnsteig, während die Abreisenden so schnell wie möglich in den Zug, weg aus der Kälte wollten.
Die Augen des Mädchens erblickten einen älteren, etwa 70-jährigen Mann der, auf einen Stock gestützt an ihrer Nische vorbeikam.
Er war ideal.
Katzengleich schlich das Mädchen aus ihrem Versteck hinter den Mann. In ihrem Mund starrten zwei scharfe Fangzähne, bereit dazu, zuzubeißen.
Das Mädchen packte die Schultern des älteren Mannes mit festem Griff, und bevor dieser um Hilfe rufen konnte, biss sie zu.
Sie labte sich an seinem Blut, bis er zusammensackte und bewusstlos wurde.
Dann zog sie ihn in die Nische und blieb bei ihm, bis er wieder aufwachte. Das würde in etwa einer halben Stunde geschehen.
Sie passte auf, und es erwies sich als richtig. Ihre scharfen Augen erblickten zwei junge, etwa 20-jährige Männer, die in ihre Richtung kamen. Sie waren schlank, südländischen Typs und rochen penetrant nach Knoblauch.
Einer der beiden fragte in gebrochenem Deutsch: „Ist alles in Ordnung?“
Das Mädchen spürte trotz der offenkundig höflichen Frage, dass die beiden andere Ziele hatten, und wappnete sich innerlich.
Sie nickte und meinte: „Es ist alles in Ordnung.“
Und sie sollte mit ihrem Gefühl recht behalten: Die beiden hatten nichts Gutes im Sinn. Im Irrglauben, sie hätten ein schwaches Menschenmädchen vor sich, stürzte sich derjenige, der geredet hatte auf das Mädchen.
Mit der folgenden Reaktion hatte er nicht gerechnet, und der schmerzhafte und gezielte Tritt in die Weichteile presste ihm die Luft aus den Lungen.
Er zischte seinem Begleiter etwas auf Arabisch zu. Da das Mädchen in seinem langen Vampirleben einige Sprachen gelernt hatte, verstand sie es. Es bedeutete: „Mach sie fertig!“
Aber auch ohne Sprachkenntnisse konnte sie erkennen, dass der zweite Junge sein Glück herausforderte. Mit einem Messer bedrohte er sie.
Das Folgende geschah so schnell, dass der junge Mann seinen Fehler erst bemerkte, als er auf dem Boden lag und sein Messer einen Meter von ihm entfernt war.
Dieses Mädchen war mindestens fünf Ligen zu hoch für ihn, was beide jetzt auch einsahen.
Sie rappelten sich auf und rannten davon, so schnell ihre Beine sie trugen.
Zurück blieben das Mädchen, das immer noch auf den alten Mann achtgab, der friedlich schlummerte. Nach genau zehn Minuten wachte er auf.
Er spürte, dass etwas anders war: Sein Rücken und seine Hüfte schmerzten normalerweise, und diese Schmerzen waren verschwunden.
Er richtete sich auf, mit einer Kraft, als könne er Bäume ausreißen. Er betrachtete die junge Frau neben ihm an. Sie trug schwarze Kleidung, genau die gleiche Farbe wie ihr Haar. Dagegen wirkte ihre Haut blass. Ihre Statur war zierlich und schlank.
„Wer sind Sie?“, fragte er. Er fühlte sich ein wenig benommen, aber dieses Gefühl verging bereits. Das Mädchen lächelte ihn an und sagte: „Sie sind gestolpert, ich habe nur auf Sie aufgepasst. Schließlich ist es nicht ungefährlich. Mein Name ist Marion.“
„Vielen Dank!“, bedankte sich der Mann. „Wo müssen Sie hin?“, fragte das Mädchen höflich.
„Ich muss noch die S3 nehmen, zu meinen Enkeln.“, erwiderte er, ganz gegen seine Gewohnheit, Fremden nichts zu sagen.
Irgendwie verspürte er aber eine Verbundenheit zu ihr. Er konnte es nicht erklären.
„Ich bringe Sie zum Gleis, damit nichts geschieht.“, erklärte sie bestimmend.
Er wollte zwar etwas erwidern, ließ es aber. Er richtete sich mit nicht geahnter Kraft auf und stand – zum ersten Mal seit Jahren – aufrecht.
Wie versprochen, begleitete sie ihn zum Gleis und wartete mit ihm, bis er eingestiegen war.
Dann drehte sie sich um und verließ den Bahnhof mit schnellen Schritten.
Unterwegs zu ihrer Wohnung dachte sie noch über den alten Mann nach.
Enkel. Ein normales Leben. In Momenten wie diesen sehnte sie sich danach.
Auch wenn sie ein Vampir war, sie hatte eine Besonderheit: Sie konnte am Tag leben. Sogar im hellen Sonnenschein. Sie kannte keinen Vampir, der dies genauso vermochte.
Selbst ihr Vater, den sie zwar kaum kannte, lebte nur in der Nacht.
Sie hatte ihn nur drei Mal in ihrem Leben gesehen: Kurz nachdem sie in die Pubertät kam. Als der Durst nach Blut sie zu übermannen drohte. Er war da und half ihr, die ersten Schritte in die neue Vampirwelt zu überstehen. Aber dann verließ er sie wieder.
Das zweite Mal war eher zufällig, während sie sich in Venedig befand. Das dritte Mal, kurz nachdem der zweite Weltkrieg ausgebrochen war.
Bei allen drei Malen wollte sie ihn darauf ansprechen, doch er wusste keine Antwort. Immer war er am nächsten Morgen wieder fort.
Immer besprach er andere Themen mit ihr.
Er war nicht da, als das Dorf ihrer Mutter im Feuer verging. Sie war die einzige Überlebende.
Er war nicht da, als sie, nur mit den wenigen Kleidungsstücke am Leib in die Stadt flüchtete.
Er war nicht da, als sie sich mit einfachsten Jobs durchschlagen musste, um zu wohnen.
Doch das war nun Vergangenheit.
Sie hatte es geschafft, zumindest finanziell. Sie lebte in einer kleinen Wohnung am Rande der Innenstadt in einem Wohnhaus mit sechs Familien. Das war nur eine Zwischenstation, denn sie wusste, irgendwann müsste sie wieder weg. Niemand verstand jemand, der über Jahre nicht altern würde. Aber dass war ein Thema für die Zukunft. Sie hatte sich gerade hier niedergelassen. Sie tarnte sich als Studentin, hatte sich sogar eingeschrieben.
Sie besuchte die Vorlesungen.
Nur um die Simulation eines langweiligen Lebens zu haben.
Es war nach sechs, als sie ihr Haus erreichte. Schon seit einer Stunde war es dunkel. Der Schneefall hatte nachgelassen. Auf der Straße hatte sich der weiße Schnee in dunkelbraunen Matsch verwandelt. Der Bürgersteig vor ihrem Haus war sorgfältig freigeräumt. Dafür sorgte Frau Müller, die Eigentümerin und Bewohnerin aus dem Erdgeschoss. Marion wusste, dass sie spätestens übermorgen dran war. Aber das würde Frau Müller nicht davon abhalten, ihr aufzulauern.
Und als hätte sie es geahnt, kaum nachdem sie den Schlüssel gedreht hatte, hörte sie die hohe Stimme der alten Dame: „Fräulein Bachstein! Kommen Sie auch mal wieder?“
Marion sah ihr in die Augen und sagte in ihrer freundlichsten Stimme: „Gibt es irgendwelche Problem, Frau Müller?“
„Mein Sohn musste schon wieder den Schnee entfernen! Mein Sohn arbeitet und Sie, Fräulein sitzen den ganzen Tag in der Uni, oder vermutlich im Cafe und lassen den lieben Gott einen guten Mann sein. Mein lieber Karl hat Rücken!“
Diese Litanei würde normalerweise ewig weitergehen, doch Marion kürzte es ab. Sie blickte der Dame in die Augen und beeinflusste ihre Gedanken, was je besser funktionierte, je einfacher die andere Person gestrickt war.
Frau Müller schnappte ein paarmal und verabschiedete sich: „Auf Wiedersehen, Fräulein von Bachstein.“ Sprachs und verschwand in ihrer Wohnung.
Marion stieg ohne weitere Probleme in ihre Wohnung im zweiten Stock. Es war eine kleine Zweizimmerwohnung, die noch aus den 70-er Jahren stammte. Ein Wohnraum mit Küche, ein Schlafzimmer und ein kleines Bad war ihr Reich. Die Küche war nur wenig im Gebrauch, das Wohnzimmer besaß einen eigenen Charme mit einer Sitzecke und drei Bücherregalen. Im Schlafzimmer war ein kleines Bett, einen Schrank, und einen Schreibtisch mit einem Stuhl. Der Schreibtisch wurde dominiert von einem Laptop.
Marion hatte wenig Gäste, die meisten ihrer Mitstudenten lebten im Studentenwohnheim. Sie zog es vor, alleine zu leben, daher entschied sie sich für diese Wohnung. Die Bücher in den Regalen waren alt und jeder Kenner würde leuchtende Augen bekommen. Alte Folianten aus dem Mittelalter, seltene Schriften und Originalausgaben. Marion liebte es, zu lesen, das sah man ihrer Wohnung deutlich an. Ansonsten lebte sie spartanisch. Ein Date hatte sie nicht vor und dass sie mit einem Jungen länger zusammen leben würde war nicht in ihrer Planung inbegriffen.
Sie setzte sich ins Schlafzimmer, schaltete ihren Laptop ein und rief ihre E-Mails ab. Die meisten drehten sich um ihr Studium. Sie studierte Geschichte, doch wusste sie durch ihr langes Leben mehr als alle ihre Professoren. Schließlich hatte sie die bedeutenden Künstler ihrer Zeit persönlich kennengelernt, war beim Prager Fenstersturz anwesend und hatte sogar eine Weile mit der Kaiserin Elisabeth I. und Königin Viktoria von England verbracht.
Am Anfang ihres Studiums hatte sie noch gewagt, sich mit den Professoren anzulegen, doch nach mehreren schlechten Bewertungen ließ sie es.
Die E-Mails waren größtenteils eine Änderung ihres Tutoriums, drei Anfragen wegen Hausaufgaben und eine Benachrichtigung, das ihr Buch in der Bibliothek verfügbar war und sie es am nächsten Tag abholen konnte.
Marion schaltete den Rechner ab und begab sich ins Bad. Sie zog sich aus und warf ihre gebrauchte Kleidung in die Ecke.
Sie wusch ihr Gesicht und betrachtete sich im Spiegel. Es war eine ihrer Besonderheiten, dass sie sich darin sehen konnte.
Schließlich las sie noch eine Stunde in einem Originalmanuskript von Goethe und legte sich dann schlafen.